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Unheimlich verehrt by Nadia

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Die zusätzliche Stunde, die sie und Pacey beim Lehrer nachsitzen mussten, verging erstaunlich schnell. Beide nahmen die Gelegenheit wahr, die versäumten Hausaufgaben nachzuholen und konnten sie dann letztlich doch noch abgeben. Eine Note Abzug würden sie jedoch in Kauf nehmen müssen, hatte ihnen der Lehrer gesagt, ehe er die beiden entlassen hatte.

Pacey wohnte am anderen Ende von Capeside. Er schnappte sich das Fahrrad, das als einziges an diesem Tag noch bei den Ständern stand und wollte sich bereits draufschwingen, als er Joeys suchenden Blick bemerkte. Sie sah sich in der abendlichen Dunkelheit um. „Suchst du jemanden? Dawson womöglich …“

Joey wandte sich zu Pacey um. „Dass Dawson seit über einer Stunde Schulschluss hat, ist mir nicht entgangen. Wieso sollte er noch hier sein?“

„Wen suchst du dann?“ Pacey folgte ihren scannenden Blicken. Aber es war weit und breit niemand zu sehen.

Unwillkürlich begann Joey zu frösteln. Nicht so sehr ob der Kälte, die mit dem eisigen Wind durch ihre eigentlich warme Kleidung drang, sondern vielmehr wegen der tiefen Sorge, dass ihr jemand in der Dunkelheit auflauern könnte.

„Soll ich dich begleiten?“, fragte er nach einiger Zeit. Er konnte ihr ansehen, dass sie sich unwohl fühlte. Joey war schon immer ein Angsthase gewesen, aber sie war schon oft im Dunkeln nachhause gegangen. Sie waren hier schließlich in Capeside, quasi am Ende der Welt. Hier war noch nie etwas wirklich Unheimliches geschehen. Nun ja, bis auf diesen Serienkiller, den sie im letzten Jahr nicht weit außerhalb von Capeside festgenommen hatten.

Joey rang mit sich selbst. Einerseits wollte sie sich keine Blöße geben und schwächlich auf Pacey wirken – er würde sie ewig damit aufziehen! -, aber andererseits hatte sie wirklich Angst. Eine irrationale Angst, die sie nicht wirklich begründen konnte, aber sie war stark. Sie zitterte am ganzen Leib und wollte sich einreden, dass das nur an der kalten Winterluft war, die Mitte Februar noch übers Land fegte. „Mach dir keine Umstände“, winkte sie ab und bemühte sich um eine feste Stimme.

Pacey seufzte und deutete hinter sich. „Schwing dich auf den Gepäckträger. Ich bringe dich heim.“

„Das kann ich nicht von dir verlangen.“ Joey schüttelte den Kopf. Wenn er sie mit dem Auto fahren würde, wäre es die eine Sache, aber mit dem Fahrrad …

„Es ist keine Limousine, aber wir kommen schneller mit dem Rad voran als zu fuß. Also schwing deinen Hintern auf den Gepäckträger, sonst stehen wir morgen noch hier.“

Das tapfere Mädchen zu spielen, das sie nicht war, brachte ohnehin nichts. Pacey ließ sich nichts vormachen. Und sie war ihm insgeheim mehr als dankbar, dass er sie heimfahren wollte. „Danke“, murmelte sie und schulterte ihren abgetragenen Rucksack, ehe sie sich hinter Pacey auf das Fahrrad setzte.

Als Kinder waren sie oft gemeinsam auf einem Fahrrad gesessen. Mal war Joey bei Pacey mitgefahren, meistens jedoch bei Dawson. Sie selbst hatte sie ein Fahrrad besessen. Ein Fahrrad war nie im Budget gewesen, nachdem ihre Mutter gestorben und ihr Vater wegen Drogenhandel ins Gefängnis gekommen war. Und so hatten die Jungs sie abwechselnd mitgenommen.

„Wie in alten Zeiten“, sinnierte Pacey, als er losfuhr und zunächst aufrecht stehend in die Pedale trat, um Schwung aufzunehmen, ehe er sich setzte.

Joey hielt sich an der eisigen Metallstange fest, auf der der Sattel befestigt war. Da sie keine Handschuhe trug, wurden ihr die Finger allerdings schnell taub und sie beschloss das Wagnis, sich an Paceys Hüfte festzuhalten. Der dicke Stoff seiner Cordjacke fühlte sich sehr viel angenehmer unter ihrer Haut an. „Ja, wie in alten Zeiten“, stimmte sie zu.

Unterwegs kamen ihnen kaum Fahrzeuge entgegen. Nur vereinzelt gingen Passanten hier und da über Gehwege. Die meisten Läden der Stadt hatten bereits geschlossen. Die Beleuchtungen der Geschäfte waren daher auf ein Minimum reduziert. Schließlich kamen sie am neuen Kino vorbei, vor dem sich eine kleine Menschentraube gebildet hatte und offenbar auf Einlass wartete.

„Wir sollten mal wieder ins Kino gehen“, schlug Pacey aus heiterem Himmel vor und holte Joey damit aus ihren Gedanken.

Seit sie ihre Zeit mehr mit Pacey als mit Dawson verbrachte, nachdem dieser sie am Ende der letzten Sommerferien abgewiesen hatte, war sie gar nicht mehr so sehr auf dem Laufenden was die Filmwelt betraf. Sie wusste nicht, was gerade im Kino lief und ob etwas dabei war, das sie interessierte. „Können wir gerne machen“, erwiderte sie dennoch.

„Willst du meine Handschuhe haben?“ Pacey berührte ihre eisigen Finger auf seiner linken Hüfte.

Es war nur eine flüchtige Berührung, aber sie sandte eine befremdliche warme Welle durch Joeys Körper. „Nein, geht schon. Du brauchst sie genauso, schließlich bekommst du mehr von dem kalten Fahrtwind ab.“ Seine Fürsorge rührte sie. Sein Verhalten ihr gegenüber hatte sich ohnehin in den vergangenen Monaten drastisch geändert. Hin und wieder versuchte er mit einem flapsigen Spruch die Spannung zwischen ihnen zu lösen, aber Joey spürte die Veränderung dennoch. Sie sah ihn inzwischen mit anderen Augen, auch wenn sie dies nur ungern zugab. Er war nicht mehr der ungehobelte Flegel, der sie seit Jahren schikanierte und ihr gehörig auf die Nerven ging. Er war ein enger Freund geworden, ein Vertrauter sogar! Wenn sie Kummer hatte, bemerkte er es oft deutlich vor Dawson. Und manchmal musste sie gar nicht viel sagen, er schien auch so zu wissen, was sie belastete.

So war es auch im vergangenen Monat gewesen, als sich der Todestag ihrer Mutter gejährt hatte. Ihr war den ganzen Tag jämmerlich zumute gewesen und Pacey hatte einfach bei ihr gesessen und ihr zugehört. Sie hatten sich alte Fotoalben angesehen, Geburtstagskarten, die ihre Mutter jedes Jahr für sie gebastelt und die Joey sorgfältig aufbewahrt hatte.

Sie war ihm unendlich dankbar für seine Freundschaft. Allerdings war sie sich nicht sicher, warum er sich seit diesem Schuljahr so sehr um sie kümmerte. Sicher, Dawson hatte sich am Ende der Sommerferien in Eve verknallt und wer weiß was mit diesem Miststück getrieben. Aber inzwischen war Eve wieder verschwunden und würde wohl auch nicht nach Capeside zurückkehren. Wer war schon so bescheuert in dieses Kaff zurückkehren zu wollen? Dennoch hatte Dawson sie auf Distanz gehalten. Dass sie AJ kennengelernt hatte, war Joey nach ihrem Liebesdrama mit Dawson wie ein Segen erschienen. Aber AJ lebte und studierte nun mal in Boston und sie hatte kein Auto, so dass sie eben nicht ständig zu ihm fahren konnte. Von den Fahrtkosten, die sowohl Auto als auch die Züge kosteten, ganz zu schweigen. Und AJ hatte keine Zeit, um immer wieder nach Capeside zu fahren, was sie durchaus verstand. Aber gerade jetzt wünschte sie sich, dass sie einen kräftigen Footballspieler zum Freund hätte, der ihrem unheimlichen Verehrer zeigen würde, wo der Hammer hängt. Stattdessen ließ sie sich von ihrem Freund Pacey auf einem gut zehn Jahre alten und entsprechend klapprigen Fahrrad nachhause bringen.

Pacey … Dass er angefangen hatte mehr als eine platonische Freundin in ihr zu sehen, beunruhigte Joey zunehmend. Sie konnte sich noch sehr lebhaft daran erinnern, wie sie sich in Dawsons Nähe gefühlt hatte, als dieser noch in Jen verliebt gewesen war und in Joey nichts weiter als seine beste Freundin sah. Sie erinnerte sich noch an die schlaflosen Nächte, die kreisenden Gedanken, die Stiche im Herzen, wann immer Dawson zärtlich über Jen gesprochen oder diese geküsst hatte. Sie wollte nicht, dass Pacey sich in ihrer Gegenwart genauso mies fühlte. Dafür bedeutete er ihr zu viel …

Das Fahrrad wurde gestoppt und Joey abrupt aus ihren Gedanken gerissen. „Willkommen zuhause, Cinderella“, verkündete Pacey und schwang sich nicht allzu elegant vom Rad, da sie immer noch auf dem Gepäckträger hockte und er sein Bein somit nicht hintenüber schwingen konnte.

Joey erhob sich mit steifen Gliedmaßen und streckte sich. Ihre Finger waren taub von der Kälte und ihr Gesicht fühlte sich wie gelähmt an. Pacey hatte Bewegung gehabt, ihm ging es da anders. Seine Wangen waren einigermaßen gerötet, ebenso die Nase. Er rückte sich seine Mütze zurecht und wollte sich gerade wieder auf sein Rad schwingen, als Bessie und Bodie aus dem Haus auf sie zukamen.

„Wo hast du gesteckt?“, wollte Bessie wissen und klang dabei streng.

„Wir haben uns Sorgen gemacht“, erklärte Bodie, der Lebensgefährte ihrer Schwester, in deutlich sanfterem Ton.

„Wir mussten beide nachsitzen“, gestand Joey. „Da es dunkel war, hat Pacey mich nachhause gefahren.“

„Wie ausgesprochen lieb von ihm“, frotzelte Bessie, ehe sie die linke Augenbraue steil anhob und Pacey eingehend musterte.

„Ich fahre dich heim“, bot Bodie an. „Das ist das Mindeste, nachdem du Joey sicher zurückgebracht hast.“

„Nicht nötig“, winkte Pacey ab. „Die frische Luft tut gut.“ Außerdem hatte er es nicht wirklich sehr eilig nachhause zu kommen. Auf das halb verbrannte Essen seiner Mutter und die Spötteleien seines Vaters konnte er nun wirklich verzichten. Davon abgesehen würde ihn fürs Nachsitzen vermutlich eh eine Standpauke erwarten.

„Ich bestehe darauf.“ Bodie blieb hart. Er schnappte sich das Fahrrad und legte es auf die Ladefläche des alten blauen Pickups. „Steig ein …“

„Und du kommst mit rein und trinkst erstmal einen schönen heißen Tee und isst was“, wandte sich Bessie an ihre jüngere Schwester, legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie ins Haus.

„Danke, Pacey!“, rief Joey ihm noch über die Schulter hinweg zu.

Er lächelte und nickte. „Jederzeit, Potter, jederzeit.“

Bodie ließ den Motor an, der aufgrund der Kälte nicht gleich auf Anhieb anspringen wollte, dann jedoch dunkel grollte. Der Pickup rollte rückwärts bis er außer Sicht geriet. Joey stand noch einen Moment auf der Veranda und winkte zum Abschied.

„Ach, übrigens ist wieder etwas für dich abgegeben worden“, erklang hinter ihr Bessies Stimme.

Als Joey sich zu ihr umdrehte, reichte ihre Schwester ihr eine einzelne rote Rose und einen Briefumschlag. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. „Wer hat das hier abgegeben?“

Bessie zuckte arglos die Schultern. „Keinen Schimmer. Das lag auf der Veranda als wir vom Einkaufen zurückkamen.“

Joey hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie wusste, dass Dawson nicht dahinter steckte und Pacey ebenso wenig, ganz gleich wie er inzwischen für sie empfinden mochte. Und für AJ war es viel zu untypisch, trotz der Gedichte. AJ war eindeutig ein besserer Poet. Wenn jedoch keiner von ihnen der Kavalier war, wer steckte dann dahinter?
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